Hermann Ritter

Zur Einführung

Ich habe mich dafür entschieden, etwas über ein Thema zu schreiben, mit dem ich mich seit Jahrzehnten beschäftige. Seit 1982 bin ich Rollenspieler. Ich habe Rollenspiele geschrieben, lektoriert und übersetzt; importiert, exportiert und in Läden verkauft. Und natürlich habe ich ungezählte Wochenende damit verbracht, sie zu spielen – als Zauberer in Eiswüsten, als 1. Offizier im Weltraum und als Ermittler in Höhlen unter London.

Inhaltlich verbleibe ich (von einigen „Ausrutschern“ abgesehen) bei der Fantasy als Genre. Sie passt besser zum Mythos und zum Heidentum als die Science Fiction.

Was sind Rollenspiele?

Bevor ich mich Gygax und seiner Verbindung zu den Asatru zuwende, muss ich erklären, was Fantasy-Rollenspiele sind. Fantasy-Rollenspiele sind heute aus der Welt nicht wegzudenken – aber nur in der Form der Umsetzung für den PC, das MPOG („Multiplayer Online Game“) und das LARP („Live Action Role Playing“). Dass das alles mal mit „pen & paper“ angefangen hat, ist den meisten Leuten unklar.

Vorgänger des Fantasy-Rollenspiels sind die „wargames“ oder „tabletops“, das Nachspielen von historischen Schlachten mit historischen Einheiten anhand von ausgesprochen komplizierten Regeln. Eines der intelligentesten Regelwerke stammt von H. G. Wells und heißt „Little Wars“, erschienen 1913. Schon diese Schlachten mit Zinnfiguren fesselten Menschen, die zum Heidentum oder zum Okkultismus gezählt werden können. MacGregor Mathers, einer der Gründer des „Golden Dawn“, war einer jener, die sich damit beschäftigten; das Fortleben seiner Arbeiten an den Grundlagen der Magie zieht sich kontinuierlich zu den frühen Fantasy-Autoren wie Robert E. Howard und H.P. Lovecraft.1

1971 veröffentlichte der Amerikaner Gary Gygax „Chainmail“, ein Spiel zum Simulieren historischer Schlachten. Er übernahm das Kampfsystem, während seiner eigenen Phantasie (und der seiner Mitarbeiter) die Grundzüge für den phantastischen Teil des Spieles entsprangen – die Formulierung von Grundlagen der Magie für eine archaische Welt.2 Das Einfügen von Magie-Elementen und die Idee, statt Einheiten einzelne Figuren zu benutzen, führten zur Entwicklung des modernen Rollenspiels.3

1974 erschien dann das erste Fantasy-Rollenspiel „Dungeons & Dragons“: „Before 1974 there were no role-playing games.“4 Auf der einen Seite sollten diese Regeln eine möglichst große Realitätsnähe des Spiels ermöglichen – die Regeln sollten in der Lage sein, alle Situationen zu erfassen, die „im täglichen Leben” auf einer Fantasy-Welt auch vorkommen könnten; auf der anderen Seite baute Gygax reine Fantasy-Elemente ein, er erfand „logische” Grundlagen für das Funktionieren von Magie, eine Götterwelt, Hintergrundinformationen über das Leben verschiedener Rassen (z.B. Elfen und Zwerge) usw. Oder um es wissenschaftlich auszudrücken: „Fantasy-Rollenspiele sind durch variable Spielregeln gesteuerte mündliche kommunikative Handlungen, die in eine imaginäre/fiktionale Welt verlegt sind und auf Konfliktlösungen sowie das Bestehen von Abenteuern hinauslaufen.“5

Der Siegeszug des Rollenspiels

1977/1978

Am Anfang war „D&D” (so die offizielle Abkürzung) nur ein bescheidener Erfolg beschieden. Doch nach einigen Jahren setzte für Gygax und seine für „D&D” gegründete Firma der wirtschaftliche Siegeszug ein: „By 1977 TSR realized that they would never be able to meet the demand for D&D products (…). The game was so successful that even big toy store chains were starting to sit up and take notice (…). (…) Suddenly obscure little D&D was being printed in runs of 100,000 (…).”6

Das Spiel wurde schnell sehr erfolgreich und hatte großartige Verkaufszahlen („By 1978 role-playing had become as big as all older forms of wargaming combined.”7). Und natürlich fing dieses neue Spiel an, kreative Persönlichkeiten anzuziehen, die sich dort verwirklichen konnten („As role-playing became more popular, it attracted a number of creative people who might otherwise have drifted into different fields.“8).

Bis 1985

Schnell folgten in Amerika andere Rollenspielsysteme – mit z.T. anderen Hintergründen als der Fantasy-Literatur. 1985 konnte man schon von verschiedenen „Milieus“ reden, in denen Rollenspiele stattfinden.9

Überwiegend waren es die klassischen Fantasy-Rollenspiele; neben „D&D“ und seinen Weiterentwicklungen z.B. „Tunnels & Trolls“ und „RuneQuest“. Im Laufe der Zeit wurden jedoch viele weitere Milieus für Rollenspiel-Regeln erschlossen.

Da gab es fernöstliche Rollenspiel („Land of the Rising Sun“), diverse Adaptionen von Fantasy-Romanen, z.B. von Michael Moorcocks Werken um den „Ewigen Helden“ („Stormbringer“) oder J.R.R. Tolkiens „Mittelerde“ („Middle-Earth Role Playing“). Auch Comics wurden umgesetzt, wie das „Elfquest“-Rollenspiel zeigt.

Im Bereich der Detektive gab es „Gangster“ und „Gangbusters“, „Top Secret“ oder das „James Bond 007 Role-Playing Game“. Im Wilden Westen spielten „Boot Hill“ und „Gunslinger“. Auf hoher See dann „Pirates & Plunder“ oder „Privateers & Gentlemen“. Superhelden findet man im „Marvel Super Hero Game“, bei „Villains & Vigilantes“, „Superworld“ oder „Superhero 2044“. Auch ein „Indiana Jones Role-Playing Game“ durfte nicht fehlen.10 Später kam das Rollenspiel „Denver“ nach der bekannten Fernsehserie.

Es gab noch Legionen an Science Fiction-Rollenspielen, deren bekanntestes „Traveller“ sein dürfte. Zu erwähnen seien noch diverse Horror-Rollenspiele, besonders das auf den Werken von H.P. Lovecraft basierende „Call of Cthulhu“.

Im September 1983 begann eine neue Ebene der Vermarkung: Die „Dungeons & Dragons“-Sendung am Samstagmorgen – ein Cartoon, die für zwei Jahre lief.11

Zur Vermarktung: „Dragon Magazine 320 – 25“

In den USA ging die Verbreitung ab da rasant weiter. Nach Übersee wurde das Spiel zum Teil durch das Militär verbreitet. Schon 1977 schwappte diese Welle durch Militär-Angehörige und ihre Freunde, Austausch-Studenten und eingeschworene Spielerkreise auch nach Deutschland.

In den folgenden Jahren erschienen hier nicht nur Lizenzausgaben amerikanischer Rollenspiele (wie „D&D” und „Traveller”), sondern es entwickelte sich – mit Spielen wie „Midgard” und „Das schwarze Auge” – auch ein originärer deutscher Markt mit hohen Auflagen. Das Spiel „Midgard“ hatte keine Wurzeln in der germanischen Mythologie, es speiste sich aus einer Kombination von „Anleihen“ bei englischsprachigen Rollenspielen und der Fantasy-Welt „Magira“.

Schon 1982 erschien die erste Übersetzung von „D&D“, nämlich ins Französische, es folgten 13 weitere Sprachen.12

Die Verbreitung der Rollenspiele lief parallel zu der Entwicklung von Asatru. In den USA begann man 1968, 1972 gab es Odinismus in Australien, 1973 in England; selbst die Gründung der „Asatru Free Assembly“ 1976 passt in die Zeitschiene.13

Und die Quellen nennen die Inspiration der Asatru eindeutig: „In den USA war es Stephen McNallen, der angeregt durch Fantasy-Literatur und Filme 1968 für sich selbst mit der Verehrung der germanischen Gottheiten begann.“14 Und an anderer Stelle: „Es ist fast ausschließlich der Beliebtheit von Tolkiens Werk zu verdanken, dass ich in dessen Nachfolge ein explosionsartiges Interesse an Fantasy-Stoffen entwickeln konnte, eine Gattung ,die sich archetypischer Merkmale von Magie, der Heldenfahrt und Wesenheiten jenseits menschlicher Natur oder der des beschränkten abrahamitischen Pantheons bediente.“15

Und die „Danksagung“ im Buch „Asatru“ enthält auch einen Dank an Hawkmoon – benannt nach einer Figur aus Moorcocks „Der Ewige Held“-Saga.16

Der Gygax-Kosmos

Gary Gygax arbeitete jahrzehntelang für seine Firma „TSR“ und sein Regelsystem „D&D“ bzw. „AD&D“.

1976

Früh wurden die Grundlagen für eine polytheistische Hintergrundwelt geschaffen.

Gods, Demi-Gods & Heroes 01

Die Ausrichtung ist klar. Im Vorwort dieses Bandes heißt es: „What the authors have done in this volume is to attempt to set down guidelines that will enable you to incorporate a number of various mythologies into your game/campaign. They make no claims that any of this material presented is exhaustive, or even infallible. (…) Myth is defined as a legend. Obviously, when dealing with material of this sort, there is a lot of latitude in interpretation. This is what the authors have presented: their interpretations. These interpretations are the result of months of painstaking, arduous research. As earlier defined, mythology is legend, and hundreds of volumes have been printed, each with its own interpretation. Further research and reading is recommended into all of the mythos presented herein. (…) truly are. This is our last attempt to delineate the absurdity of 40+ level characters. When Odin, the All-Father has only(?) 300 hit points, who can take a 44th level Lord seriously?“17

Die nordischen Götter enthielten hier Spielwerte und Beschreibungen ihrer Waffen etc. Das Backcover sagt alles über die Ausrichtung der Herausgeber ...

Gods, Demi-Gods & Heroes 72

1980

1980 erschien „Deities & Demiqods“ (sic) für „AD&D“.

Deitis & Demigods Cyclopedia 1

Präsentiert wurden diverse Religionen, die als Hintergrund für das Spiel dienen sollte. Da man die Rechte für einige Kulturen nicht besaß, verschwanden die Bezüge auf Cthulhu und Melnibonea aus dem später erscheinenden „Legends & Lore“.

Deitis & Demigods Cyclopedia 3

Aber die Ausrichtung war klar. Neben historischen Mythen wandte man sich Cthulhu, Melnibone und Nehwon zu – oder sollte man nicht besser Lovecraft, Moorcock und Leiber sagen. Ein Horror-Schriftsteller mit einem Hang zum Morbiden, ein Fantasy-Schriftsteller mit Wurzeln in der Chaos-Magie und ein Wicca.

Der „Norse Mythos“ wird ausführlich beschrieben, ebenso diverse Gottheiten mit Spielwerten. Die Darstellung der Gottheiten sollte noch lange die Wahrnehmung bestimmen. Man versuchte, den Göttern Spielwerte zuzuteilen, den Zaubern Grade und Schaden und den Magie- und Religionssystemen eine Vergleichbarkeit miteinander. Für das nordische System sprach, dass es mit den Runen ein nachvollziehbares, gut dokumentiertes, kulturell übernehmbares und trotzdem „mystisches“ System gab, das man als Unterbau für ein strukturiertes Magiesystem verwenden konnte. Mit dem System verschiedener Welten/Ebenen aus den Rollenspielen waren die nordischen Mythen „kompatibel“, besonders, wenn man den Weltenbaum als eine Art „Verbindung“ zwischen den Welten einbaute.

Deitis & Demigods Cyclopedia 121

Deitis & Demigods Cyclopedia 122

1981

Auch die Leselisten der Regelwerke waren eindeutig: In „Dungeons & Dragons” wird in der Literaturliste unter „Non Fiction“ unter anderem auf Ingri D’Aulaire und Edgar Parin „Norse Gods and Giants“ und „Trolls“ hingewiesen. Dazu kommen viele Werke aus der Phantastik, die sich mit nordischer Mythologie beschäftigen. Genannt seien Poul Anderson, Alan Garner, L. Sprague de Camp und Tolkien.

Basic Rules 01

Basic Rules 62

1984

AD&Ds „Legends & Lore“ erschien dann mit einem Titelbild, das eindeutige Anleihen am nordischen Mythos nahm …

Legends & Lore 1

Inhaltlich wieder mit einem längeren Teil über den „Norse Mythos“, der mit den früheren Texten identisch war; man hatte aber Cthulhu und Melnibone inzwischen entfernt.

Legends & Lore 3

Die Illustrationen des Bandes sind eindeutig:

Legends & Lore 170

1987

Die Ausarbeitung zieht sich weiter durch die Regelwerke. Das „Manual of the Planes“ enthält lange Listen von Beschreibungen verschiedener Ebenen („Planes”). Neben diversen elementaren Ebenen (Luft, Feuer, Erde, Wasser …) gibt es in den „Outer Planes“ nicht nur den Olymp, sondern auch Gladsheim, die Heimat der nordischen Götter.

1988

Natürlich ist es am einfachsten, wenn man einen Ort definiert, an dem die nordische Kultur auf der Fantasywelt blüht und gedeiht. Was wäre einfacher, als diesen Ort „The Northern Reaches“ zu nennen und entsprechend mit einem nordischen „Gefühl“ auszustatten.

The Northern Reaches 1

The Northern Reaches 23

The Northern Reaches 25 (II)

The Northern Reaches 29 (II)

1989

Etwas was den Asatru fehlt, gelang aber immerhin den Rollenspiel-Machern: Humor.

Dragon Magazine 144 – 1

1990

Das „Dragon Magazine“ war eine der großen Quellen für (lizensiertes) Material für die Rollenspiele aus der Gygax-Spieleschmiede. So ist es nicht verwunderlich, dass Gottheiten aus unterschiedlichen Kulturen hier dargestellt wurden.

Dragon Magazine 153 – 1

1991

Mit dem Ausbau der unterschiedlichen Welten für die Regelwerke aus dem Hause TSR wurde es auch notwendig, mehr und mehr Hintergrundmaterial anzubieten. Auch für den Bereich der nordischen Mythologie wurde dies getan. Das Buch bietet historisches Hintergrundmaterial.

Vikings Campaign Sourcebook 1

Vikings Campaign Sourcebook 4

Vikings Campaign Sourcebook 5

1994

Die Rolle von Yggdrasil, als verbindendem Weltenbaum zwischen allen (!) Welten, wurde weiter ausgebaut und definiert: „One magnificent feature of the planes is the great tree Yggdrasil, the World Ash. Rising on the first layer of Ysgard, Yggdrasil’s roots and branches extend into many other planes, providing yet another way for travelers to get around. No one has mapped the extent of these pathways, but some of the important paths are known. One of the roots reaches to Niflheim on the Gray Waste, and another stretches to Pandemonium, where Loki (of the Norse pantheon) resides. The branches are no less widespread, even crossing the silvery void of the Astral Plane to reach the very Prime Material. There, it’s said, the smallest branch tips touch hundreds of worlds where the Norse gods are revered or remembered. Other branches reach Elysium, the Beastlands, and Limbo, and there are likely to be many more such pathways.“18 Damit etablierte sich der Weltenbaum als Kernelement der Viele-Ebenen-Struktur der Fantasy-Rollenspiele „D&D“ und folgender.

2002

Inzwischen hatten sich die Wege von TSR und Gygax getrennt. Die Herausgeber wollten und konnten aber auf nordische Mythologie nicht verzichten, da diese vom Markt gefordert wurde. Weiterhin erschienen also lange Texte über die nordische Mythologie.

Man merkt an der Ausführlichkeit der Beschreibungen, wie sehr sich das Rollenspiel weiter entwickelt hatte und wie stark das Bedürfnis nach gut gemachten Quellenbüchern war – auch zum Thema nordische Spiritualität.

Deities and Demigods 163

Deities and Demigods 164

Deities and Demigods 165

Deities and Demigods 166

Deities and Demigods 168

Aber in der Szene blieb Gygax eine wichtige Größe. Das Magazin „GameSpy‘„ platzierte in der Liste der dreißig einflussreichsten Personen in der Spieleszene aus dem März 2002 Gygax auf Platz 18, gleichauf mit Tolkien und direkt hinter George Lucas.19

2003

Gary Gygax hat das lange durchgehalten. Noch 2003 (Gygax starb fünf Jahre später) vermischte er für sein „Lejendary Earth World Setting“ in „Gary Gygax’s Living Fantasy“ „Teutonic and Norse myth“ und nannte Baldur, Freyja, Byggvir, Torge, Ran, Walkeries, Asynjur, Frigga, Volund, Einheriar, Norns, Holdur.20 „Abbeys, convents, priories too will be established in the name of one or more specific deities of a pantheon. For example, there might be a Convent of Ran (the sea goddess) or one of the Walkeries (Nordic Valkyrjr) or Asynjur (Frigga’s handmaiden demi-goddesses). An abbey might be dedicated to Volund (Wayland) the smith god or to the Einheriar (the hero-warriors of Valhalla). Priories, with preaching and teaching friars, could be dedicated to the Norns, Baldur, Byggvir, Holdur (god of wisdom) … you get the picture.”21

Andere Systeme

Zumindest einen kurzen Überblick will ich bieten über die Dinge, die außerhalb von TSR/„D&D“/Gary Gygax erschienen sind. Ich konzentriere mich dabei – durch die Tätigkeit von Gygax im amerikanischen Markt bedingt – auf englischsprachige Produkte.22

1981

Aus den Zusammenhängen des „Wargames“ als Quelle des Fantasy-Rollenspiels sind Begriffe wie „Ragnarök“ oder „Armageddon“ nicht wegzudenken. Schon früh flankierte man Spielartikel mit Sachhintergrund. 1981 erschien „Ragnarok: Mythic Story of the Twilight of the Gods“ von Susan Shwartz, die sich später einen Namen als Fantasy-Autorin machte.

Ares Magazine 1

1991

GURPS („Generic Universal Role-Playing System“) ist ein universelles Regelsystem, das „sourcebooks“ zu allen möglichen Epochen und Welten anbietet. Natürlich können da die „Norsemen“ nicht fehlen.

GURPS 3 - Vikings 1

GURPS 3 - Vikings 3

GURPS 3 - Vikings 87

1993

Schon sehr früh erschien mit „Fate of the Norns“ von Andrew Valkauskas ein klar Asatru-zentriertes Rollenspiel. Optisch sehr stark, die zweite Auflage über Crowdfunding finanziert (2013).

Fate of the Norns – Cover

Fate of the Norns - Ragnarok

2004

Der Boom ging weiter, wobei man jetzt das „Setting“ für eine nordische Rollenspiel-Kampagne in einer veränderten Gegenwart ansetzte.

Valherjar – The Chosen Slain 1

2008

Eine klare Abkehr von der Fantasy, aber dringend nötig: „The day after Ragnarök“ von Kenneth Hite. Hier beschwören die Nazis die Midgardschlange, als ihnen klar wird, dass sie den Krieg nicht mehr gewinnen können. Die Amerikaner zünden in ihrem Maul eine Atombombe und die Midgardschlange stirbt. Sie bleibt dann unter anderem auf Mitteleuropa liegen und bildet so einen „Eisernen Vorhang“ der anderen Art.

The day after Ragnarok Cover

The day after Ragnarok Map

2009

In Frankreich erschien „Yggdrasill“, das es 2012 in eine englischsprachige Ausgabe schaffte – eine großartige Optik, wie man neidlos zuerkennen kann.

Yggdrasill Core Rulebook 1

Yggdrasill Core Rulebook 11

Yggdrasill Core Rulebook 58

Yggdrasill Core Rulebook 187

Die Kritiker

Die Versuche von Gygax und vieler späterer Autoren, in Rollenspielen auch heidnische Elemente einzubauen, blieb nicht unbemerkt. Schon früh, nämlich 1982, erschienen die ersten Kritiken auf Deutsch. So schrieben die Zeugen Jehovas: „Dungeons and Dragons ist von dem Gedankengut Satans, des Teufels, durchsetzt, der schon immer Habgier, Gewalttätigkeit und Dämonismus gefördert hat.“23

1984 veröffentlichte „The Moody Bible Institute of Chicago“ das Buch „Playing With Fire“ von Weldon & Björnstad, das 1986 als „Fantasy – Das Spiel mit dem Feuer“ auf den deutschen Markt kam. Die Wertungen über Rollenspiele sind eindeutig: „Weltliche und religiöse Beobachter sowie ehemaliger Spieler kritisieren die Spiele wegen ihrer Nähe zum Okkultismus, ihrer Brutalität und ihrer möglicherweise negativen Auswirkungen auf das Leben der Spieler.“24 Weiter: „D&D lehrt Zauberei und ist ein dämonisches, okkultes, heidnisches Spiel vom Teufel.“25

1986 erschien „Turmoil in the Toy Box“, deutsch 1988 als „Aufruhr in der Spielzeugkiste“. Dort heißt es u.a. über Rollenspiele: „(…) diese Spiele sind die effektivste, bestverpackteste und -vermarktete Einführung in den Okkultismus seit Beginn der menschlichen Geschichtsschreibung.“26 Man wird noch deutlicher: „»Dungeons and Dragons« ist nicht in die Kategorie »Spiele« einzuordnen, sondern als Lehrbuch der Dämonologie, der Zauberei, des Voodoo-Kults, des Raubes und Mordes, der Gotteslästerung, des Selbstmords, der sexuellen Perversion einschließlich Homosexualität und Prostitution, der Satansanbetung und des Sadismus zu bezeichnen.“27

1988 beendete ich meine Diplomarbeit über Fantasy-Rollenspiele, in der ich zu beweisen suchte, dass Rollenspiele nicht esoterisch sind, sondern sich in einer Traditionslinie von Morenos Psychodrama befinden. Meine Diplomarbeit war die zweite deutschsprachige Arbeit über Fantasy-Rollenspiele, und natürlich erfuhr sie (gerade weil sie an einer evangelischen Fachhochschule geschrieben worden war) einiges an Beachtung. In den nächsten Jahren „tingelte“ ich damit durch Oberstufen und Mittelalterfeste um besorgten Eltern zu erklären, dass Rollenspiele eben nicht ein Werkzeug des Satans seien.

Nicht alle waren meiner Ansicht. 1991 nahm sich eine Münchener Elterninitative des „Problems“ an. Die „Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen“ gab dem Autor Bernd Dürholt die Gelegenheit, mit „Educatio magica?“ eine Warnung vor Rollenspielen zu veröffentlichen. Klar die Warnung vor Magie und Okkultismus. Schön ist, dass ich es immerhin so geschafft habe, mal in einer Broschüre aufzutauchen: „… so spiegelt diese Aussage doch den Geisteszustand des Schreiber [= ich] wider, der anscheinend durch zu viel Fernsehen und Okkultismus schon am Rande der geistigen Problemzone steht.“28 Auch eine Möglichkeit, sich mit meinen pädagogischen Argumenten auseinanderzusetzen.

Ich hoffe, dass ich damit als Fachmann für Okkultismus, Magie und Heidentum, den Zusammenhang dieser Themen mit Fantasy-Rollenspiel gelten darf, da ich mich nur am Rande der Problemzone befinde, und nicht in ihr … wo auch immer sie sein mag.

9 Thesen zu Rollenspiel & Asatru

Am Ende möchte ich 9 Thesen über die Einwirkung des Fantasy-Rollenspiels auf die Entwicklung einer nordisch-heidnischen Szene in den USA aufstellen.

These 1: Rollenspiele haben sich parallel zu Asatru verbreitet; „schuld“ sind die Zeitumstände (neues Zeitalter, politische Veränderungen, Aufbruchsstimmung etc.).

These 2: Es gab eine gegenseitige Beeinflussung zwischen Rollenspiel und Asatru, z.T. über die Vermittlung von Literatur (Fantasy) und Kunst.

These 3: Einzelne Personen waren in verschiedenen „Subs“ unterwegs und sorgten für einen Transfer von Informationen; die hohe Zitierbarkeit unterschiedlicher Bilder lässt darauf schließen, dass dieser Transfer erfolgreich war.

These 4: Die Rollenspiele gaben Göttern und Halbgöttern Spielwerte, machten sie berechenbar und vergleichbar. Und sie definierten geschlossene Götterwelten („Pantheon“). Dadurch wurden Götter „berechenbar“ und Teile bestimmter „Familien“. Auch die Festlegung auf einen „Kulturnamen“ für Götter rührt daher (Odin, nicht Wotan).

These 5: Das „nordische System“ bot sich aus verschiedenen Gründen (Runen, Yggdrasil, verschiedene „Welten“) als Grundlage für ein Magie-System an. Dieses Magie-System stammt eigentlich aus der Notwendigkeit, für eine Kampfsituation im Spiel Regeln zu definieren.

These 6: Die Rollenspiele gaben die Optik vor – die hohe Anzahl an kreativen Künstlern in diesem Bereich strahlte auf andere „Subs“ aus.

These 7: Die Rollenspiele sind mit am (Wieder-)Erstarken von Wicca schuld, da sie das Nebeneinander verschiedener Götter möglich machen und massiv unterstützen.

These 8: Viele „magische Reisen“ sind nur verständlich, wenn man immer daran denkt, dass eine Möglichkeit beschrieben wurde, zwischen verschiedenen Spielwelten zu wechseln.

These 9: Das Rollenspiel „gaukelt“ ein strukturiertes Magiesystem für die darunter liegende Kultur vor. Der Umgang mit Magie im heidnischen Kontext ist von den Strukturen des Fantasy-Rollenspiels geprägt, ohne dieses nicht denkbar – doch bis heute nicht in der Lage, die eigene Abstammung zu erkennen und diese Beschränkungen zu überwinden.

Literaturliste

  • Cook, David TSR 9322 „Vikings Campaign Sourcebook“ für „Advanced Dungeons & Dragons 2nd Edition”, Lake Geneva/USA, 1991

  • „Dragon Magazine 144”, Lake Geneva/USA, 1989

  • „Dragon Magazine 153”, Lake Geneva/USA, 1990

  • „Dragon Magazine 320”, Bellevue/USA, 2004

  • Dürholt, Bernd „Educatio Magica – Fantasy-Spiele – Spiele zum Verderben”, München (Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen), 1991

  • Franke, Jürgen „Die Welt der Rollenspiele“ in Franke, Jürgen & Fuchs, Werner (Hrsg.) „Knaurs Buch der Rollenspiele“, München, 1985

  • Grubb, Jeff TSR 2022 „Manual of the Planes” für „Advanced Dungeons & Dragons”, Lake Geneva/USA, 1987

  • Gygax, Gary „Gary Gygax’s Living Fantasy“, Little Rock/USA, 2003

  • Gygax, Gary & Arneson, Dave TSR 1011 „Dungeons & Dragons – Basic Rulebook“, USA, 1981

  • „Gygax Magazine 1”, New York, 2013

  • Hite, Kenneth „The day after Ragnarok”, Alexandria/USA; 2008

  • Kathe, Peter „Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen“, Friedberg (Club für Fantasy- und Simulationsspiele e.V.), 1987

  • Kiermeier, Klaus „Die Wikinger kommen!“ in „WunderWelten 17“, „Magazin für Abenteuerspiele und Phantastik“, Erkrath, 1993

  • Kuntz, Robert & Ward, James TSR 2006 „Gods, Demi-Gods & Heroes“ für „Dungeons & Dragons“, Lake Geneva/USA; 1976

  • Lowder, James (Hrsg.) „Worlds of their Own”, Bellevue/USA, 2008

  • Martin, Ingo „Ein Überblick über die amerikanische und englische Rollenspiel-Szene“ in Franke, Jürgen & Fuchs, Werner (Hrsg.) „Knaurs Buch der Rollenspiele“, München, 1985

  • Nagel, Rainer „Fachsprache der Fantasy-Rollenspiele“, Frankfurt/Main et al., 1993

  • Neko et al. „Yggdrasil“, Oxford/GB, 2012

  • Oertel, Kurt (Hrsg.) „Asatru – Die Rückkehr der Götter“, Rudolstadt, 2012

  • Pearson, Harry „Achtung Schweinehund!“, London, 2007

  • Phillips, Phil „Aufruhr in der Spielzeugkiste“, Marburg, 1988

  • Redman, Rich; Williams, Skip & Wyatt, James „Deities and Demigods“ für „Dungeon & Dragons“, o.O., 2002

  • Rolston, Ken TSR 9230 GAZ 7 „The Northern Reaches” für „Dungeons & Dragons”, Lake Geneva/USA, 1988

  • Schick, Lawrence „Heroic Worlds: A history and guide to roleplaying games”, New York/USA, 1991

  • Schick, Lawrence (Hrsg.) TSR 2013 „Legends & Lore“ für „Advanced Dungeons & Dragons”, Lake Geneva/USA, 1984

  • Spyridis, Greg „Valherjar – The Chosen Slain”, o.O., 2004

  • Valkauskas, Andrew „Fate of the Norns”, Quebec/Kanada, 1997

  • Ward, James M. et al. TSR 2013 „Deities & Demiqods Cyclopedia” für „Advanced Dungeons & Dragons”, Lake Geneva/USA, 1980

  • Weldon, John/Björnstad, James „Fantasy – Das Spiel mit dem Feuer“, Asslar, 1986

1 Nach Pearson, S. 158 f.

2 Vgl. Kathe, S. 12-15 und Franke, S. 20-22

3 Vgl. Nagel, S. 11

4 Schick, S. 17 [„Vor 1974 gab es keine Fantasy-Rollenspiele.“ HR]

5 Nagel, S. VII

6 Schick, S. 26 [„Spätestens 1977 realisierte TSR, dass sie nicht in der Lage sind, die Nachfrage nach D&D-Produkten zu befriedigen. (…) Das Spiel war so erfolgreich, dass große Spieleläden darauf aufmerksam wurden (…). (…) Auf einmal wurde das obskure, kleine D&D in Auflagen von 100.000 Stück hergestellt (…)“ HR]

7 Schick, S. 29 [„1978 erreichte das Rollenspiel Verkaufszahlen wie alle älteren Form des „Wargaming“ gemeinsam“ HR]

8 Ebenda [„Das Rollenspielen wurde immer populärer und zog eine Menge kreativer Menschen an, die sonst in anderen Feldern gelandet wären.“ HR]

9 Nach Martin, S. 182

10 Nach Martin, passim

11 ebenda

12 Vgl. „Dragon Magazine 320“, S. 24

13 Nach Oertel (Hrsg.), S. 103

14 Oertel (Hrsg.), S. 103

15 Oertel (Hrsg.), S. 103

16 Nach Oertel (Hrsg.), S. 14

17 Kuntz & Ward, S. 3 [„Was die Autoren in diesem Band versucht haben ist Regeln zu entwickeln, die es dir erlauben, eine Vielzahl von verschiedenen Mythologien in dein Spiel/deine Kampagne einzubauen. Die Autoren behaupten nicht, dass ihr Material vollständig oder unfehlbar ist. (…) Mythen sind Legenden. Daher ist es verständlich, wenn im Umgang mit solchem Material viel Freiheit bei der Auslegung bleibt. Alles, was die Autoren hierin vorführen, sind ihre Interpretationen. Noch einmal: Mythen sind Legenden und es gibt Hunderte von Bänden, jeder mit seiner eigenen Auslegung. Wir empfehlen, sich mit den genannten Mythen durch Lesen und Forschung selbst zu beschäftigen. (…) Das ist unser letzter Versuch, die Sinnlosigkeit von Figuren ab Grad 40 zu erklären. Wenn Odin, der All-Vater, nur 300 Trefferpunkte hat, wer kann dann eine Grad 44-Figur ernst nehmen?“ HR]

18 Wise, S. 45 [Übersetzung: „Eines der Wahrzeichen der Ebenen ist der große Baum Yggdrasil, die Weltenesche. Von Ysgard aus erreichen Yggdrasils Wurzeln und Zweige verschiedenste andere Ebene, so bietet sich für Reisende eine weitere Möglichkeit zu Reisen. Eine Wurzel reicht nach Niflheim auf der grauen Ödnis, eine andere reicht nach Pandämonium, wo Loki (aus dem nordischen Götterhimmel) weilt. Die Zweige sind nicht weniger weitreichend, sie kreuzen sogar die silberne Leere der Astralebene bis hin zum Ursprung. Angeblich berührt eine Zweigspitze hunderte von Welten, wo nordische Götter verehrt oder erinnert werden. Andere Zweige erreichen die eleusinischen Felder, das wilde Land oder Limbo, und es geht sicherlich noch viele weitere Wege.“ HR]

19 Nach der Autorenvorstellung „Gary Gygax“ in Lowder (Hrsg.)

20 „Gary Gygax’s Living Fantasy“, S. 113

21 Ebenda [„Klöster und Konvente werden im Namen einer oder mehrerer bestimmter Gottheiten eines Götterhimmels gegründet. So kann es einen Konvent für Ran (die See-Gottheit), der Walkerien (der nordischen Walküren) oder für Asynjur (Friggas Magd, einer Halbgöttin) geben. Ein Kloster kann Volund (Wieland) dem Schmiedegott oder den Einheriern (den Krieger-Helden Walhallas) gewidmet sein. Abteien, mit lehrenden und lernenden Mönchen, könnten den Nornen, Baldur, Byggvir, Holdur (dem Gott der Weisheit) gewidmet sein … ihr wisst, was ich meine.“ HR]

22 Einen Überblick über deutschsprachige Informationen bietet Kiermeier.

23 Aus „Erwachet!” vom 22. Juni 1982

24 Weldon/Björnstad, S. 15

25 Ebenda, S. 16

26 Phillips, S. 91

27 ebenda

28 Dürholt, S. 30 f.