„Herdfeuer 05“ (2004)
Begegnung mit ING im Gilbhart (Oktober)
ING, INGuschen, INGo, INGolf, INGe, INGrid, INGolstadt, EldarING
I-sa N-autiz G-ebo, ING, ThING
Heute habe ich mehr als ein neues graue Haar entdeckt, bei einem ahnungslosen Blick in den Spiegel. Jedes graue Haar hat etwas zu erzählen. Es ist ein Stück der vergangenen Tage, ein Moment des Innehaltens und des Bewusstseins, dass sich das Rad der Zeit schon wieder gewaltig gedreht hat, sichtbar in meinem Haar.
Wofür steht das erste graue Haar, nah der Stirn auf der linken Kopfhälfte? Für vergangene Nächte, voller Sorge um die Gesundheit meiner Sippe? Erzählt es von durchwachten Stunden an der Seite meiner kränkelnden Tochter?
Wofür steht das zweite graue Haar, weiter hinten auf der rechten Kopfhälfte? Für meine Hände, die sich nachts ins Kopfkissen graben, eingeholt von Träumen der Ungewissheit, ob es noch ein Morgen gibt? Für all die Stunden, in den denen ich arbeite und schufte, und mein Geldbeutel doch immer leerer wird? Spricht es über Stunden der Liebe, Gefühle des Hasses?
Sicht ist nur, dass ich gelebt habe, sicher ist, dass nur das bleibt, wovon die Übrigbleibenden einmal erzählen werden. Wir haben viel getan, und nicht nicht alles erreicht. I-sa N-autiz G-ebo.
So schüttelt der Herbstwind die Birken, und weht die letzten Blätter in meine Hände. Auch davon erzählen meine grauen Haare. Von all den vergangenen Blättern, welche schon auf die Erde fielen, in den dahINGeflossenen Jahren. Weich fühlt es sich an, wenn meine Stiefel beim Gang durch die Gasse der Stadtmauern von Hamburg die bunten Blätter vor sich herschieben. Ein kalter Schauer überzieht mein Gesicht, während mein Körper vom Mantel gewärmt wird.
Noch ein paar Schritte, und die Dunkelheit ist an diesem Ort bereits angekommen. Nur die aufleuchtenden Sterne und der bereits sichtbare Mond drINGen noch durch den Lichtschein der Finster und Straßenlaternen. Überall bereiten sich die Menschen auf die Nacht vor, und durch die erleuchteten Fenster sieht man rührige Frauen an den Herden und Familien in den Stuben sitzen. Ich aber gehe und schreite voran, immer weiter in die Nacht. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Entscheidung umzukehren, und es den Menschen gleich zu tun, an deren beleuchteten Fenstern ich vorübergING, oder soll ich weitergehen?
Langsam kriecht die Kälte unter meinen Mantel, und meine Hände – steif geworden von dem beginnenden Frost – zünden zitternd eine Zigarette an. Angekommen an einer einsamen Bank, an einem vergessenen Ort, setze ich mich und schaue in das schwarze Gesicht der späten Stunde. Nach vorne beugend greife ich in das sich um die Bank herum befindende Gras, auf dessen Halmen sich Skadi bereits mit frostigem Raureif angekündigt hat.
Dunkel umrissene Schatten verraten die Anwesenheit der Bäume, welche mich mit ihrem Dasein glücklich machen. Ich bin nicht allein! Herausgerissen aus dieser Stille, denke ich über einen Gang zum Friseur nach, welcher vielleicht mit einer Tönung jene Zeugen meiner Vergangenheit in meinem Haar verbergen könnte. Mein Geist reist auf die Krone jener großen Buche und schaut lächelnd und kopfschüttelnd auf mich selbst herab. Mit diesem Lächeln auf den Lippen trete ich nun doch den Heim weg an, bin verfroren, bin eiskalt, und habe die Bettdecke nun redlich verdient, und den Glühwein ebenso. So aufgewärmt greife ich in den Runenbeutel und ziehe einen Steine heraus. Ich kneife die Augen zu, und öffne nur ganz langsam die Lider.
Vorsichtig blinzele ich auf den gezogenen Stein – INGUZ – da bist Du – ING.
Mir ist, als wäre mein Geist noch nicht mit nach Hause gekommen, als ob er immer noch au jenem Ast der Buche in der nächtlichen Stunde am Ort des Vergessens säße.
Ein letztes Lächeln huscht über meine Lippen – dann übergebe ich meine Hülle dem Schlaf, auf einen weiteren Tag wartend, an dem wir gemeinsam mit Balder hinabsteigen, wartend auf die kommenden Eisblumen an meinem Fenster, wartend auf Dich – ING.